Impression: Mercedes 300 SL trifft AMG GT Black Series - Traum in alt und neu
Testbericht
SP-X/Köln. Zwei auf den ersten Blick banale Dinge einen den Mercedes 300 SL aus den Fünfzigerjahren und den aktuellen AMG GT Black Series, den bisher stärksten Serien-Mercedes mit 537 kW/730 PS. Sie sind die schnellsten Modelle, die man zum entsprechenden Zeitpunkt bei Mercedes kaufen konnte und kann.Die Mercedes Black Series-Varianten krönen immer ihre jeweiligen Modellreihen, so war es bereits bei C-Klasse, SL und SLS. Jetzt also der AMG GT, der nicht nur die höchste Motorleistung aufweist, sondern die Nordschleife in notariell beglaubigten sechs Minuten und 43 Sekunden umrundet. Es gibt zwar noch ein paar schnellere Fahrzeuge (beispielsweise Rennwagen ohne Straßenzulassung), aber der AMG GT Black Series ist hier der schnellste Serienwagen. Um eine solche Performance zu erreichen, haben sich die AMG-Techniker richtig ins Zeug gelegt.Selbst automobile Laien erkennen schnell, dass das ganz schön zerklüftete Blechkleid des Black Series Rennsport-Gene in sich tragen muss. Augenfällig sind die großen Kanäle in der Carbon-Motorhaube für Abluft. Markante Anbauteile wie die Schweller und der Frontsplitter in Sichtcarbon sehen martialisch aus, aber sind weniger Show als funktional. Alles ist auf Kühlung und Abtrieb getrimmt – so auch der zweistöckige Heckflügel mit mechanischer Verstellung für optimale Anpassung an verschiedene Tracks. Letzterem wird auch das obligatorische Gewindefahrwerk gerecht. Doch bevor es ans Steuer des stärksten Serien-Mercedes geht, gilt es, sich das historische Vorbild zu Gemüte zu führen.Der werksintern W198 genannte Flügeltürer, wie er im Volksmund heißt, ist deutlich schlichter gezeichnet als der mächtige GT Black Series. Stahlfelgen mit Zentralverschluss und prägnante Kiemen in den Flanken verströmen Rennflair – und natürlich die Powerdomes auf der Motorhaube. Eigentlich wäre das SLR Uhlenhaut-Coupé mit Achtzylinder der legitime Vorgänger des AMG GT Black Series, aber es ging ja nie in Serie. Also müssen wir uns mit einem Dreiliter-Sechszylinder begnügen, der für die Fünfziger schier unglaubliche 215 PS auf die Hinterräder loslässt und über eine damals sehr innovative Benzin-Direkteinspritzung verfügt. Es ist schwierig, die damalige Situation mit der heutigen miteinander zu vergleichen – aber viel spricht dafür, dass ein 300 SL in den frühen Nachkriegsjahren noch spektakulärer war inmitten der ganzen spartanischen Volkswagen Käfer, die seinerzeit neben vielen Motorrädern die Straße dominierten. Heute sind zumindest Autos im Leistungskorridor zwischen 500 und 800 PS keine Seltenheit auf den Flaniermeilen deutscher Städte.Doch jetzt nichts wie hinter das Steuer des sündhaft teuren 300 SL. Auch wenn die Einstiegs-Schwelle hoch ist, der Flügeltürer ist besser zu entern als mancher Sportler der Marken Lotus oder McLaren. Und selbst ein BMW i8 mit seinem schwierig zugänglichen Carbonmonocoque erfordert mehr Verrenkungen, um hinter das Lenkrad zu klettern. Zeittypisch dürre Sportsesselchen in traditionellem Karo-Stoff und ein betörend schönes Instrumentarium mit vielen mechanischen Anzeigen, darunter für Öldruck- und Temperatur, schaffen echtes Sportfahrer-Flair. Viel Metall im Innenraum und Bakelit für Lenkrad wie Schaltknauf verströmen Mercedes-Flair der obersten Kategorie. Obwohl der 300 S (W188) damals teurer war als der leichte SL mit Gitterrohrrahmen, konnte man für die 29.000 D-Mark, die der W198 kostete, fast sieben Käfer kaufen. Damit kommt man heute nicht mehr hin: Für den Preis eines AMG GT Black Series (343.600 Euro) bekommt der Kunde wahlweise zwölf Volkswagen Golf in Basisausstattung.Wie fortschrittlich der 300 SL vor sieben Jahrzehnten gewesen sein muss, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass er ja selbst für heutige Verhältnisse erstaunlich modern fährt. Seine vier Gänge rasten derart leichtgängig und geschmeidig. Der sonor klingende Direkteinspritzer-Reihensechszylinder schiebt druckvoll an und sorgt so für einen überaus souveränen Antrieb. Der Dreiliter hängt gut am Gas, dreht willig hoch, so dass die Mundwinkel des Fahrers ab der 4.000 Touren-Marke dauerhaft nach oben weisen. Allein die Lenkung – Servounterstützung Fehlanzeige – erfordert ordentlich Muskelarbeit. Da hilft auch nicht, dass das Coupé lediglich 1,3 Tonnen auf die Waage bringt.Das Fachmagazin „Auto, Motor und Sport“ testete vor etwa sechs Jahren noch einmal einen 300 SL und hat 7,3 Sekunden für den Standard-Sprint auf 100 km/h ermittelt, während ein zeitgenössischer Test desselben Magazins aus dem Jahr 1955 deutlich langsamere 9,3 Sekunden ergab. Zwar waren für den W198 verschiedentlich übersetzte Hinterachsen lieferbar – aber hier dürften heute bessere Reifen mit mehr Traktion eine Rolle spielen. Je nach Übersetzung erreicht der 300 SL vor knapp siebzig Jahren ungeheure 260 km/h. Schnell ist das selbst heute noch, die Höchstgeschwindigkeit sowieso, aber auch die Beschleunigung.Und jetzt der Black Series. Hier gelingt das Einsteigen so simpel wie bei der braven Basisversion, aber dann wird es richtig sportlich. Sein abgewandelter Vierliter-V8 mit so genannter Flatplane-Kurbelwelle (damit er williger dreht) bollert nicht, aber röhrt dafür umso lauter. Unterhalten in Zimmerlautstärke wird schwierig, spätestens jetzt merkt sogar der unbedarfte Beifahrer, dass das kein ganz gewöhnlicher AMG GT ist. Gaspedal-Stöße quittiert das orangene Biest wirklich ungestüm und tänzelt selbst im Falle gut angewärmter Semislicks gerne mal ungewollt mit dem Heck. Mangelnde Traktion dürfte der Grund sein, warum es „nur“ für 3,2 Sekunden auf 100 km/h reicht – sonst wäre eine Zwei vor dem Komma gesetzt. Wer ein bisschen Übung hat, zirkelt den Straßen-Rennsportler mit dem griffigen Alcantara-Lenkrad unglaublich schnell über windungsreiche Landstraßen, ohne auch nur ansatzweise in die Nähe des Grenzbereichs zu kommen. Der Black Series ist das ultimative Spaßgerät für einsame Straßen am Sonntagmorgen. Dagegen lädt der alte, 1954 in New York vorgestellte 300 SL zum beschaulicheren Genuss ein, der toll klingende Sechszylinder ist ein Traum, die Karosserie eine Augenweide. Und obendrein ist der glamourvolle Zweitürer noch flott im Antritt. Leider erfordert es siebenstellige Preise, um in diesen Genuss zu kommen. Der AMG GT ist günstiger zu haben – aber mehrere hunderttausend Euro sind es auch, also nur ein schwacher Trost. Aber man wird ja mal träumen dürfen.Mercedes 300 SL Coupé (W198) – technische Daten:Sportcoupé, Bauzeit: 1954 bis 1963 (ab 1957 nur noch als Roadster), Länge: 4,52 Meter, Breite: 1,79 Meter, Höhe: 1,30 Meter, Radstand: 2,40 Meter3,0-l-Reihensechszylinder-Ottomotor mit Benzin-Direkteinspritzung, 158 kW/215 PS, maximales Drehmoment: 275 Nm bei 4.600 U/Min., 0-100 km/h: k.A., Vmax: bis zu 260 km/h, Viergang-SchaltgetriebeEhemaliger Neupreis (1955): 29.000 MarkMercedes-AMG GT Black Series (C190) – technische Daten:Rennsport-Coupé mit Straßenzulassung, Länge: 4,55 Meter, Breite: 1,94 bis 2,00 Meter, Höhe: 1,26 Meter, Radstand: 2,63 Meter4,0-l-V-Achtzylinder-Ottomotor mit doppelter Turboaufladung (Flatplane-Kurbelwelle), Leistung: 537 kW/730 PS, maximales Drehmoment: 800 Nm ab 2.000 bis 6.000 U/Min., 0-100 km/h: 3,2 s, Vmax: 325 km/h, Siebengang-Automatik (Doppelkupplung), Durchschnittsverbrauch: 12,8 l/100 km, CO2-Ausstoß: 292 g/km, Effizienzklasse G, Grundpreis: rund 343.000 EuroMit dem Mercedes 300 SL der Baureihe W198 und dem AMG GT Black Series treffen zwei sportliche Speerspitzen aufeinander, deren Entwicklungsstand rund 70 Jahre auseinanderliegt. An Faszination nehmen sich die beiden Ausnahme-Autos nichts.
Fazit
Mit dem Mercedes 300 SL der Baureihe W198 und dem AMG GT Black Series treffen zwei sportliche Speerspitzen aufeinander, deren Entwicklungsstand rund 70 Jahre auseinanderliegt. An Faszination nehmen sich die beiden Ausnahme-Autos nichts.Quelle: Autoplenum, 2021-09-30
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