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Testbericht

Jürgen Wolff, 18. November 2013
Als Mercedes-Benz vor 30 Jahren den 190er auf den Markt brachte, war die Skepsis groß: Kann Daimler auch kleine Autos bauen? Eine Rekordfahrt sollte das belegen. Und ein Päckchen Zigaretten half dabei kräftig mit.

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die über Erfolg oder Misserfolg zumindest mit entscheiden. Bei der C-Klasse von Mercedes-Benz war es ein kleines Stück Alufolie aus einer Zigarettenpackung. Denn als die Stuttgarter die neue kompakte Baureihe W 201 im November 1982 vorstellten, da gab es nicht nur Lob, sondern auch viel Skepsis für den Vorläufer der heutigen C-Klasse. Die neue Baureihe unterhalb von S- und E-Klasse bekam von Anfang an den wenig schmeichelhaften Beinamen "Baby-Benz" verpasst. Die vom Team des damaligen Chefdesigners Bruno Sacco gezeichneten Typen 190 und 190 E trafen auf viel Zweifel: Kompakte Autos - können die Luxusbauer aus Schwaben so was überhaupt?

Vor allem mussten sie. Denn der kleine Benz war nicht unbedingt ein Kind der Liebe, sondern schlicht ein Produkt der wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Die USA, auch damals schon einer der Hauptmärkte von Mercedes-Benz, wurden aus Gründen des Umweltschutzes neue und deutlich niedrigere Grenzwerte für den Verbrauch eingeführt. Der über alle Modellreihen berechnete Flottenverbrauch war für Mercedes-Benz mit der S-Klasse und dem Vorläufer der heutigen E-Klasse allerdings nicht zu schaffen. Um weiter in Nordamerika Autos verkaufen zu dürfen, musste also eine kleinere Modellreihe her, deren vergleichsweise niedriger Verbrauch den Durchschnitt unter die neue Grenze trieb.

Die dann in Bremen und Sindelfingen produzierte Kompaktklasse machte eine ganze Reihe von technischen Entwicklungen nötig, um nicht nur sparsamer mit dem Benzin umzugehen, sondern auch wirtschaftlich gebaut werden zu können. So setzten die Ingenieure etwa auf Leichtbau aus hochfesten Stahlblechen. Um die Ansprüche an die passive Sicherheit zu erfüllen, sorgt unter anderem die Gabelträgerstruktur des Vorderwagens für ein Crashverhalten auf dem Niveau der damaligen S-Klasse. Für das Fahrwerk wurde mit der patentierten Raumlenkerachse eigens eine neue Hinterachskonstruktion entwickelt. Jedes Hinterrad wird dabei von fünf unabhängigen Lenkern geführt. Das sorgt nicht nur für eine präzise und kontrollierte Radführung, sondern auch für ein deutlich niedrigeres Gewicht und einen geringeren Platzbedarf in der kompakten Limousine. Die Raumlenker-Hinterachse wird bis heute in der C-Klasse verbaut. Vorne arbeiten die Ingenieure mit einer an einzelnen Dreiecks-Querlenkern geführten Dämpferbein-Achse.

Als der neue Benz auf den Markt kommt, wird er zunächst mit zwei Ottomotoren angeboten, die jeweils 1.997 ccm Hubraum mitbringen. Der Grundmotor im 190 leistet dabei 66 kW/90 PS, der 190 E mit seiner Einspritzanlage KE-Jetronic von Bosch kommt auf 90 kW/122 PS. In den Jahren danach folgen ein neu entwickelter Vierzylinder-Diesel mit 53 kW/72 PS, der dank seiner Geräuschkapselung und Laufruhe nur halb so laut ist, wie vergleichbare Antriebe. Im 190 E 2.3-16 schließlich arbeitet ein 136 kW/185 PS starker Vierzylinder mit 2.299 ccm Hubraum und Vierventiltechnik. Trotz aller Innovationen, die Daimlers Ingenieure für den kleinen Benz entwickelten - viele trauten dem Kleinen nicht zu, wirklich die Qualität und Leistung zu bringen, die von Mercedes versprochen wurde.

Mitte August 1983 machte sich Mercedes-Benz auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke im süditalienischen Nardò daran, die Skeptiker zu überzeugen. Auf dem 12,6 Kilometer langen Kreiskurs, der Geschwindigkeiten bis 300 km/h zulässt, gingen drei identische Mercedes-Benz 190 2.3-16 mit den damals neuen M 102 Vierventilmotoren an den Start, die vier Wochen später auf der IAA in Frankfurt erstmals öffentlich präsentiert werden sollten. Der einfacheren Unterscheidung wegen hatte man sie mit großen farbigen Punkten im hinteren Seitenfenster kenntlich gemacht und die Teams jeweils nach der Farbe getauft: Rot, Weiß und Grün.

Die technischen und optischen Spezifikationen der Nardò-Autos entsprachen weitgehend der geplanten Serienversion - inklusive der Motorleistung von 185 PS. Um die Insekten von den Lüftungen fernzuhalten, hatte man zum Beispiel den kompletten Kühlergrill mit Fliegengitter verkleidet und auf den Kühllüfter hatte man ganz verzichtet, da bei den hohen Geschwindigkeiten der normale Fahrtwind für die Kühlung des Motors ausreichte. Die Scheinwerfer waren tagsüber abgedeckt und die Außenspiegel der besseren Aerodynamik wegen abmontiert. Und da man auf der kreisrunden Bahn eh nicht groß lenken musste, war statt einer Servolenkung nur eine mechanische Lenkung eingebaut.

Nach dem Start war das schnellste der drei Fahrzeuge 201 Stunden, 39 Minuten und 43 Sekunden Vollgas unterwegs - dann hatte als erstes das Team "Rot" unter der Leitung von Erich Waxenberger die Marke von 50.000 Kilometern geknackt. Weltrekord. So ganz nebenbei fielen unterwegs auch noch die Weltrekorde über 25.000 Kilometer und über 25.000 Meilen und neun Klassenrekorde. Die Durchschnittsgeschwindigkeit des Siegerteams: 247,939 km/h. Dank der permanent gefahrenen Höchstgeschwindigkeit bei Motordrehzahlen um 6.000 U/min. lag der Verbrauch knapp über 22 Litern auf 100 Kilometern.

Nacheinander rasten alle drei Teamfahrzeuge durchs Ziel - der Baby-Benz hatte gezeigt, dass er auch unter extremen Fahrbedingungen durchhält wie ein Großer. Und kein Ausfall trübte das Bild. Womit wir wieder bei dem Alupapier und der Zigarettenschachtel wären. Denn fast hätte es doch noch einen Ausfall gegeben: Im "grünen" 190er brach kurz vor Schluss der Verteilerfinger, erinnert sich der damalige Mercedes-Chef Werner Breitschwerdt: "Ein Teil, das praktisch nie kaputt geht und das wir deshalb auch nicht als Ersatzteil an Bord hatten." Repariert werden durfte nach den Regeln der FIA aber nur mit Werkzeug und Material, das im Auto mitgeführt wurde. Der rettende Einfall: Da der Fahrer des Wagens Raucher war und ein Päckchen Zigaretten mit auf die Strecke genommen hatte, wurde der Verteilerfinger mit dem Alupapier aus der Zigarettenpackung notdürftig geflickt - und der Wagen schaffte so auch noch die letzten paar hundert Meter bis über die Ziellinie.

Quelle: Autoplenum, 2013-11-18

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