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Testbericht

28. Juni 2016
Brighton (GB) / Paris (F), 28. Juni 2016 - Bei manchen Fahrzeugen weiß man vor dem Blick ins Innere, wer für gewöhnlich hinterm Steuer sitzt (oder man hat zumindest eine grobe Ahnung). Beispiele gefällig? Wie wäre es mit dem Renternehepaar im Golf Sportsvan, dem gestressten Außendienstler im Audi A4 Avant oder der frisch gestylten Auszubildenden in ihrem Opel Adam? Die wunderbare Welt der Stereotype. Also, machen wir es etwas schwieriger: Wen würden Sie in einem neuen Chevrolet Camaro vermuten? Gar nicht so leicht, oder? Ich habe jetzt in dem Ur-amerikanischen Musclecar (der Camaro wird dieses Jahr 50) der sechsten Generation Platz genommen. Ob man sich auch als europäischer Durchschnittsbürger in dem Wagen sehen lassen kann und ob man einen Amerikaner wirklich mit einem Vierzylinder kaufen sollte? Mein Roadtrip aus dem südenglischen Brighton nach Paris lieferte die Antworten. Let`s hit the road ... Kein Vergleich zur deutschen Konkurrenz Bevor es los geht, möchte ich noch ein paar Worte zur Optik verlieren, obwohl Sie sich natürlich aufgrund der unterschiedlichen Geschmäcker unbedingt selbst ein Bild von dem Wagen machen sollten. Hier ist meine Meinung: Obwohl der neue Camaro genauso lang (4,78 Meter) und sogar vier Zentimeter schmaler ist als ein Mustang (der misst 1,92 in der Breite), wirkt der Ford irgendwie graziler. Am anderen Ende der Auffälligkeits- und Größenskala steht hingegen das Pendant von Dodge - der Challenger. Große Motorhauben, schmale Fenster und eine hohe Gürtellinie haben zwar alle Fahrzeuge gemeinsam, doch der Chevy ist ein toller Kompromiss für alle, denen der Mustang eine Spur zu sozialverträglich ist und der Dodge einfach eine Nummer zu heftig. Warum ich hier deutsche Konkurrenten gleich Außen vor lasse? Sind wir doch mal ehrlich: Ein BMW 6er oder ein Mercedes E-Klasse Coupé (obwohl das S-Klasse Coupé rein größentechnisch auch mit den Fahrzeugen konkurriert) sehen neben dem Camaro aus wie spießige Internatsmusterschüler im Kirchenanzug. Rückbank für Hartgesottene In den Innenraum geht es über zwei große Türen. Ich nehme auf dem serienmäßigen Ledergestühl Platz, stelle mir elektrisch die passende Sitzposition ein und muss anschließend feststellen, dass meine Hand nur noch mit Mühe zwischen meine Lehne und die Sitzfläche der Rückbank passt. Was ich damit sagen will? Der Fond ist eigentlich nur für Passagiere zu gebrauchen, die eine gewisse Leidensfähigkeit auszeichnet. Oder man begreift die Rückbank eben als Gepäckraumerweiterung, denn Einkaufskörbe können sich nicht über Platzmangel beschweren.
Kaum Glas, unübersichtlich und ein aufgeräumtes Cockpit Die Verarbeitung und die Materialien sind im Großen und Ganzen gar nicht so schlecht und vor allem in Vergleich zu dem nur für die USA konzipierten Challenger deutlich besser. Darüber hinaus ist das Cockpit wunderbar aufgeräumt und folgt einem klareren Konzept als das vom Mustang. Das war es dann aber auch mit der Übersichtlichkeit, denn erstens sind die Fensterflächen (egal ob beim Cabrio oder beim Coupé) in etwa so groß wie die eines mittelalterlichen Bauernhauses und zweitens sitzte ich so tief in dem Fahrzeug, dass sich mein Kopf gerade so über der Türkante befindet. Die Sitzposition trägt außerdem dazu bei, dass ein lässig abgelegter Arm auf der Türkante nur mit Schulterschmerzen realisierbar ist. In der Türverkleidung selbst liegt der Arm allerdings auch unbequem und nicht wirklich ergonomisch. Stichwort Ergonomie: Der serienmäßige Achtzoll-Bildschirm des Infotainment-Systems (so schön und logisch die Bedienungsoberfläche auch geworden ist) ist nach unten geneigt. Das sieht nicht nur ungewöhnlich aus, sondern lässt sich auch noch schlecht ablesen. Warum kauft man in Europa einen Ami? Aber man kauft sich in Europa nun mal keinen sportlichen Ami wegen dem tollen Kofferraum. Und auch das Platzangebot auf der Rückbank oder die Innenraumqualität sind eher nebensächlich. Man kauft sich einen Ami wegen dem Design (und das des Camaro ist großartig) und wegen dem Antriebsstrang. Sie wissen schon, ein dicker V8, Automatikgetriebe, Heckantrieb, oder? Nicht mehr ganz, denn neben dem archaischen 6,2-Liter-V8-Saugbenziner bietet Chevrolet den neuen Camaro nun auch mit einem Turbo-Vierzylinder an. Ein Vierzylinder? In einem Musclecar? Das muss ich ausprobieren und drücke den Startknopf. Turbosound: Geeignet für das US-Car-Treffen? Der erste Gedanke, nachdem das Zweiliter-Aggregat erwacht? Irgendwie hört sich der Camaro an wie der Mercedes-AMG A 45. Die Tonlage ist gewöhnungsbedürftig für ein Auto dieser Klasse, doch wer Turbosound mag, kommt auf seine Kosten - auch wenn der Mustang mit seinem 2,3-Liter-Vieryzlinder noch ein wenig ansprechender klingt. Gekoppelt wird der Camaro-Vierender mit einer Achtgang-Automatik auf BMW-Niveau. Vollgas. Ab 3.000 Umdrehungen liegen 400 Newtonmeter an, die dem 1,5-Tonnen-Fahrzeug auf die Sprünge helfen. Hier muss man nicht wirklich verzichten, doch im oberen Drehzahlbereich (die Maximal-Leistung von 275 PS liegt ab 5.500 Umdrehungen an) wird der Motor doch sehr zäh und träge. Ob das bei uns ankommen wird? Bei US-Car-Fans wohl kaum und wer will sich schon mit einem Vierzylinder bei einem Ami-Treffen blicken lassen? So prognostiziert auch Chevrolet, dass lediglich 20 Prozent der hierzulande ausgelieferten Fahrzeuge mit vier Töpfen unterwegs sein werden.
Der "Muss-ich-haben"-Motor: 6,2-Liter-V8 Also geht auch der neue Camaro nur mit V8? Für mich ist die Sache klar: Ja. Der Achtzylinder ist in eigentlich allen Belangen besser als der Vierzylinder. Er bietet die tolle und lineare Kraftentfaltung von frei saugenden 6,2 Liter Hubraum. Die 453 PS und 617 Newtonmeter werden in meinem Fall über ein knackiges Sechsgang-Getriebe (besser zu schalten als das des Mustang) an die Hinterräder des Wagens abgegeben und schieben das Coupé in 4,6 Sekunden auf Tempo 100. Schluss ist erst bei 290 km/h. Und dann wäre da noch die Akustik, die süchtig macht: Und zwar beim Beschleunigen aus dem tiefen Drehzahlkeller hin zu über 6.000 Umdrehungen, wenn aus dem tiefen V8-Grollen schlagartig ein blechern knallendes Crescendo wird. Sie vermissen beispielsweise die Akustik eines Mercedes SLS? Der Camaro kommt diesem Sound erschreckend nah. Wer fragt da schon nach dem Verbrauch? Im Heft stehen 12,8 Liter, wir brauchten beim gemütlichen Dahingondeln lediglich 11,9 Liter. Fair, oder? Vor allem weil der Vierzylinder nur gut zwei Liter weniger benötigte. Lenkung und Fahrwerk nach europäischem Geschmack Zugegeben: Zwischen Brighton und Paris liegen leider keine Passstraßen oder Kurvenparadiese und so hatte das erstaunlich ausgewogene Fahrwerk mit magnetologischen Dämpfern vor allem mit Bodenwellen auf Autobahnen zu tun. Etwas lauter als bei der deutschen Premiumkonkurrenz sind die Abrollgeräusche zwar immer noch, doch Poltergeräusche oder eine gewisse Schwammigkeit kommen beim Camaro nicht mehr vor. Auch die elektrische Servolenkung ist schön präzise und vergleichbar mit der des Mustang. Darüber hinaus ist sie in der Mittellage angenehm ruhig. Im Track- und Sport-Modus wird sie schön progressiv, mit starken aber keineswegs zu heftigen Rückstellkräften. BMW-Niveau? Nicht wirklich. Aber das ist auch gut so, denn zu viel Perfektion würde dem Camaro nicht stehen und ihn irgendwie zu langweilig machen - man könnte auch zu "deutsch" sagen. In einem Camaro (genauso wie im Mustang) will ich kein perfektes Fahrwerk, keine allzu perfekte Lenkung und keinen überflüssigen Technik-Schnickschnack, der bei dem kleinsten Anflug von Spaß regelnd eingreift und den Wagen zurück in die computerberechnete Bahn lenkt. Was ich will, sind qualmende Reifen, viel Kraft und unanständiger Sound gepaart mit einer außergewöhnlichen Optik, nicht allzu viel Technik und das alles zu einem guten Preis. Das V8-Camaro-Coupé: Halb so teuer wie ein BMW 6er Los gehts beim Camaro als Coupé mit Zweiliter-Vierzylinder und Achtgang-Automatik für 39.900 Euro. Der Ford Mustang ist mit Vierender zwar bereits ab 38.000 Euro erhältlich, aber er wird dann mit einem Sechsgang-Schaltgetriebe geliefert. Wer den V8 möchte, muss mindestens 45.900 Euro investieren. Hier liegt der Camaro 2.900 Euro über dem Preis des 421 PS starken Fünfliter-V8-Pendants von Ford. Wer seinen Camaro als Cabrio bestellen möchte, muss mit einem Aufpreis von je 5.000 Euro rechnen und wer seinen V8 lieber mit einer Automatik koppelt, addiert 2.000 Euro auf seine Rechnung. Und nur noch einmal zum Vergleich: Für einen BMW 6er mit 4,4-Liter-V8 und 450 PS sind mindestens 90.900 Euro fällig.
Preis
Neupreis: 39.900 € (Stand: Juni 2016)
Fazit
Obwohl der Chevrolet Camaro in den USA entwickelt wurde und auch dort gebaut wird (in Lansing, Michigan), ist die neueste und sechste Generation so passend für Europa wie noch nie. Der Zweiliter-Vierzylinder trägt zwar zu dieser Entwicklung bei, sollte bei ernsthaftem US-Car-Interesse aber vernachlässigt werden. Wenn Sie wirklich mit einem Camaro liebäugeln, dann sollten Sie die 6.000 Euro Aufpreis für die vier Extra-Zylinder unbedingt investieren. Fahrwerk und Lenkung sind auf dem europäischen Niveau angekommen, bei der Materialwahl im Innenraum gibt es noch Luft nach oben, aber auch hier sind viele Schritte in die richtige Richtung gemacht worden. Wenn Sie also ein auffälliges Coupé oder Cabrio mit mächtig Sound und mächtig Dampf und Qualm mit einem unschlagbaren Preis-Leistungsverhältnis suchen, sollten Sie den Chevrolet-Konfigurator aufsuchen.+ Preis-Leistungsverhältlnis, starker V8, klasse Sound, Europa-konformes Fahrwerk, bullige und auffällige Optik, aufgeräumtes Cockpit- unübersichtliche Karosserie, verbaute Türverkleidungen, unpassender (aber ausreichender) Vierzylinder, noch etwas zu viel Hartplastik im Innenraum
Testwertung
4.5 von 5

Quelle: auto-news, 2016-06-28

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