Bugatti Chiron - Wenn der Tacho bis 500 km/h reicht
Man macht sich ja keine Vorstellung, mit welchen Schwierigkeiten Entwickler eines Supersportwagens konfrontiert sind. Da hat man den stärksten Serienmotor der Welt konstruiert, 1.500 PS, und es gibt keinen Motorenprüfstand auf den man ihn testen kann. Reifen werden üblicherweise auch nicht bis knapp 500 km/h geprüft, wie also sicherstellen, dass sie einem nicht um die Ohren fliegen? Und dann diese gut 1,60 lange Alu-Spange, die sich einfach nicht so herstellen lässt, wie vom Design vorgesehen. Was tun? Die Antwort: Wenn das Auto ein Bugatti werden soll, muss man in Superlativen denken.
Nach vier Jahren Entwicklungszeit bringt Bugatti im Herbst den Chiron auf den Markt. Der Supersportwagen ist der Nachfolger des bis 2015 insgesamt 450-mal gebauten Veyron. Gleichzeitig ist der Zweisitzer die Steigerung des Superlativs: War der Veyron schon luxuriös (ab 1,2 Millionen Euro), stark (zuletzt 1.200 PS) und schnell (Rekordhalter mit 431 km/h), so soll ihn sein Nachfolger in allen Belangen übertreffen.
„Am Anfang stand die Maximalgeschwindigkeit“, sagt Entwicklungsleiter und Bugatti-Geschäftsführungsmitglied Willi Netuschil. „Daraus ergaben sich notwendige Leistung und Drehmoment in Abhängigkeit vom Luftwiderstand.“ Wenn das 16-Zylinderaggregat mit Registeraufladung hinter den Sitzen grollend loswütet – einundzwanzig, zweiundzwanzig, drei- jetzt ist der Chiron auf 100 km/h - fängt die Elektronik den Fahrer erstmals bei Tempo 380 ein. Wem bis dahin noch nicht die Luft weggeblieben ist, kann mittels „Speed-Key“, einem speziellen Schlüssel, die Raserei bis 420 km/h treiben. Hier greift abermals der Begrenzer. Mit den dann noch vorhandenen Reserven könnte man einen Normalo-Sportwagen bestücken: 250 PS sind bei 420 km/h noch übrig.
Genug, um den Veyron-Rekord deutlich einzustellen. Die Vorbereitungen laufen, zum geplanten Maximal-Speed schweigen die Verantwortlichen eisern. Gut, die speziell für den Chiron entwickelten Michelin-Reifen sind vorsichtshalber bis 470 km/h getestet, in der Spitze sogar bis 490 km/h. Übrigens auf einem Reifenprüfstand für Flugzeuge, „kein Pkw-Prüfstand schafft diese Geschwindigkeiten“, so Leiter FahrwerksentwicklungJachin Schwalbe.
Möglich macht die kaum zu fassenden Dimensionen das 1.500-PS-Aggregat: W16-Motor mit acht Litern Hubraum und vier Turboladern. 95 Prozent des Motors sind neu. Die rund zwei Drittel größeren Abgasturbolader werden jetzt zweistufig aufgeladen, so dass der Fahrer das volle Drehmoment (1.600 Nm) früh (ab 2.000 U/min) und lange (bis 6.000) spürt. „Die beste Möglichkeit 1.500 PS zu kontrollieren, ist es, wenn die Leistungskurve möglichst linear verläuft“, erklärt Netuschil. Drei neue Motorenprüfstände wurden eigens für das Chiron-Triebwerk entwickelt.
Noch stammt die brachiale Leistung also aus den 16 Zylindern mit acht Litern Hubraum. Grundsätzlich ist eine Elektrifizierung für die Bugatti-Entwickler in Zukunft zumindest denkbar, allerdings nicht, um Sprit zu sparen: „Wenn wir eine solche Technologie adaptieren würden, dann um auch eine höhere Maximalgeschwindigkeit zu erreichen“, sagt Chef-Entwickler Netuschil.
Für das heutige 436-Kilo-Aggregat mussten alle anderen Fahrzeugteile abspecken. „Mit Leichtbau am ganzen Auto kompensieren wir das Mehrgewicht, das durch mehr Leistung und Drehmoment entsteht“, so Netuschil. Motorblock aus Aluminium, Pleuelstangen und Abgasanlage aus Titan, Saugrohr, Monocoque und Hinterwagen aus Carbon sind nur einige Beispiele. Das einzige nicht gewichtsoptimierte Teil am Chiron ist das Logo im markentypischen Hufeisen: Es ist aus massivem Silber.
Flankiert wird es von den flachsten Voll-LED-Scheinwerfern im Autobau, die acht Leuchtquadrate sind neun Zentimeter hoch. Der Versuchung dabei allzu trendy zu werden, haben die Designer widerstanden: „In einer Zeit, in der automobile Tagfahrlichtsignaturen zunehmend modisch erscheinen, haben wir mit dem Acht-Augen-Gesicht eine eindeutige und zeitlose Identität geschaffen“, so Chef-Designer Achim Anscheidt.
Zeitlos, aber mit Details an die man sich erinnert: Wie zum Beispiel die Mittelfinne, die sich über das gesamte Auto bis ins Heck zieht und die eine Reminiszenz an den Kamm des Vorkriegswagens Atlantic ist. Oder die Bugatti-Linie genannte, seitliche C-Spange, hinter der sich die Lufteinlässe für den Mittelmotor verbergen. „Sowohl für unsere Kunden als auch für uns Designer ist es wichtig, dass ein Bugatti eine stilistische Langlebigkeit besitzt und auch in zehn oder gar 50 Jahren als wertvoll wahrgenommen wird“, so Anscheidt.
Den bleibensten Eindruck aber hinterlässt das Heck mit seiner umlaufenden Abrisskante. Das sieht nicht nur spektakulär aus, sondern sorgt auch dafür, dass während der Fahrt ein Sogeffekt entsteht, der die im Motorraum angestaute Luft abziehen lässt. „Wir hatten sehr viel Platz, das Drama zu erschaffen, das dem Auto gebührt“, strahlt Designer Sasha Selipanov. Ein wenige Millimeter hohes, 1,60 Meter breites Lichtband mit 82 roten LEDs dient als Schlussleuchte, eingefasst in Aluminium. „Dieses Detail war einfach zu zeichnen, aber unfassbar kompliziert in der Produktion“, so Selipanov. Schlussendlich wird nun die Alu-Spange tatsächlich aus einem vollen Block gefräst.
Genauso aufwendig entstehen die Aluminium-Teile für den Innenraum, zum Beispiel Lenkrad und das Metall-Band in der Mittelkonsole. Kühl fasst sich das Metall an, edel das Leder. Im kompletten Innenraum gibt es fast kein Plastikteil. Nur am Anschnallgurt musste aus Sicherheitsgründen Kunststoff verwendet werden. Ansonsten gilt „What you see is what you get“, alles was nach Metall, Leder oder Carbon aussieht, ist es auch.
Der Fahrer blickt neben dem analogen Tacho auf zwei digitale Anzeigen, die er über Lenkradtasten bedient. Die Mittelkonsole hingegen bleibt frei von jeglichem digitalen Schnickschnack – besser so: „Bei 300 km/h und mehr wollen Sie Ihre Hände nicht vom Lenkrad und den Blick nicht von der Straße nehmen, um auf einen Bildschirm in der Mittelkonsole zu tippen“, erklärt Simon Wägener, Leiter Elektrik und Eletronik. „Wir haben das Fahrer-Cockpit so konzipiert, dass man alle wesentlichen Funktionen vom Lenkrad aus steuern kann.“
Unendlich sind die Individualisierungsoptionen für den Ausnahme-Sportwagen. Wer am Bugatti-Sitz in Molsheim einen Chiron bestellt, dem hilft deshalb einer der Chiron-Designer bei der Auswahl. „Unendlich“ ist nicht übertrieben: Auf Wunsch wird das Sitzleder an die Handtasche der Ehefrau angepasst – für einen gewissen Aufpreis natürlich.
Nach hunderten Stunden Handarbeit wird jeder fertige Chiron, der aus dem Atelier in Molsheim komm, noch einmal etwa 350 Kilometer auf der Straße getestet, unter anderem auf einem Flugplatz mit mehr als 300 km/h. Danach werden Reifen, Getriebeöl und Unterboden ausgetauscht, bevor das Fahrzeug zum Kunden geht. Auch der Lack ist auf der Testfahrt extra geschützt.
500 Exemplare wird es vom Chiron nur geben, gut 200 sind bereits verkauft, bis zu vier Jahre warten die Kunden auf die Auslieferung. Wer so weit im Voraus mindestens 2,4 Millionen Euro netto ausgibt? Produktionsleiter Christophe Piochon: „Besitzer von Luxusautos jubeln ihrem Lieblingsverein aus ihrer eigenen Loge zu. Bugatti-Kunden besitzen ihren Lieblings-Fußballclub.“ Die Garage des durchschnittlichen Bugatti-Käufers ist gut gefüllt. Im Schnitt besitzt jeder 42 Fahrzeuge. Und 2,7 Privatjets, 1,2 Yachten, 3,2 Helikopter und 4,6 Immobilien.
Wer nicht ganz so betucht ist, den Bugatti Chiron aber irgendwo parken sieht, sollte ein Blick durch das Fahrerfenster ins Cockpit werfen. Dort prangt der einzige Serien-Tacho, der bis 500 km/h reicht. Der Fenster-Blick erklärt, warum der Hightech-Sportler kein komplett digitales Cockpit hat: Dann wäre der Geschwindigkeitsmesser im Stand schwarz. Eine Enttäuschung für alle Fans. Wie gesagt, man macht sich keine Vorstellung, an was ein Bugatti-Entwickler alles denken muss.
Gönnt sich der Multi-Milliardär etwas ganz Besonderes, dann ist es ein Bugatti. Das neuste Modell der Edel-Schmiede ist in Dimensionen unterwegs, von denen ein normaler Autofahrer höchstens träumen könnte.
Quelle: Autoplenum, 2016-07-25
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