Ich habe den Mercedes W 110 200 D, die "Heckflosse", als ersten Mercedes unter mehreren Nachfolgern gekauft, einfach weil ich mal einen haben wollte und weil er damals preiswert war. Ende der 80er Jahre war das Auto schon über 20 Jahre alt und galt damals schon als Oldtimer
(die Wortkreation "Youngtimer" war uns da noch nicht so geläufig).
Der Wagen war der Inbegriff der Stabilität und Verarbeitungsqualität, die die Marke damals (im Gegensatz zu heute) weltberühmt gemacht haben. Alles an diesem Fahrzeug war von höchster Wertigkeit, von der kleinsten Schraube bis zur Karosserie und dem Motor. Alle Zuliefererteile waren erste Wahl, da wurde nichts Billiges verbaut. Kein schnödes Plastik im Innenraum, bei Sitzbeschlägen, Griffen und Hebeln Metall, zum Teil verchromt.
Die Platzverhältnisse im Innenraum waren wirklich sehr großzügig;
da es damals noch keinen nennenswerten Einfluß des Windkanals auf die Konstruktion gab, war die Karosserie ziemlich hoch und bot daher auch Leuten über 185 cm genügend Kopffreiheit. Dieses Raumangebot wurde auch von keinem Nachfolger mehr erreicht.
Ebenso ungeheuer groß war der Kofferraum - es war der größte, den ich je vorher oder nachher bei einer Limousine hatte.
Die Sitze waren sehr breit geschnitten und mit robusten und langlebigen Stoffbezügen versehen. Nur waren sie Mercedes-typisch recht weich, vor allem die Rückbank war so schwammig wie Omas Sofa.
Das Armaturenbrett war klar und übersichtlich, alle Schalter waren griffgünstig gelegen. Der Aschenbecher war eine richtige Schublade und wurde damit auch den Rauchern dicker Havannas gerecht.
Da tickte eine ganggenaue elektromechanische Kienzle-Uhr, die heute so wahrscheinlich nicht mal mehr für teures Geld überhaupt hergestellt werden kann.
Der Tacho war ein (Walzen-)Säulentacho, das heißt die Geschwindigkeit wurde in Form einer ansteigenden Säule in drei Farben (von grün über gelb nach rot) dargestellt. Andere Autos dieser Epoche, z.B. die Opel Rekord A- und B - Modelle hatten ein ähnliches Konzept, allerdings in der Horizontale, also ein Bandtacho. Ich fand das
eigentlich ganz nett, es war mal was anderes.
Der Schalthebel saß, ebenfalls zeitgemäss, am weißen Lenkrad mit schönem Chromhupring um die Prallplatte.
Diese Lenkradschaltung war übrigens leichtgängiger und genauer als jede Mercedes-Mittelschaltung, die je gebaut wurde (und heute noch wird).
Es gab noch keine Vorglüh-Anzeige in Form eines Lämpchens, sondern eine Glühwendel, die unter einem verchromtem gewölbten Lochblech auf der Armaturentafel saß und einen direkt und genau über den aktuellen Zustand der im Motor verbauten Glühkerzen informierte. Damals hieß es noch "Diesel-Gedenkminute", und nach sehr kalten Nächten konnten auch schon mal zwei (oder drei) daraus werden. Aber der Mercedes-Diesel, der ja eigentlich wie ein LKW-Motor war, sprang an, immer. Dank eines Drehrädchens ließ sich die Leerlaufdrehzahl mühelos erhöhen und senken, ganz wie man es brauchte.
Damit konnte man wunderbar im Standgas im ersten Gang dahinrollen, auf Feldwegen z.B. recht nützlich.
Und man darf sich jetzt nicht täuschen lassen von der niedrigen Nominalleistung von nur 55 PS - diese Autos waren zwar nicht schnell (schließlich waren sie ziemlich schwer), aber auch beileibe nicht so langsam, wie man vermuten möchte.
Der Durchzug gerade aus niedrigen Drehzahlen war aufgrund des günstigen Drehmomentverlaufs und der gut abgestuften Übersetzung ganz ordentlich, die Endgeschwindigkeit von ca. 135 - 140 km/h eher mäßig. Aber das war ja auch gar nicht die Domäne der 190 D und 200 D (vor 1964 oder-65 190 D, gleiche Karosserie, nur als 200er schon etwas modernisiert). Dafür gab's die Benziner und die S-KLasse-Modelle. (ebenfalls gleiche Karosserie, aber mit längerer Schnauze und anderen Scheinwerfern). Der Diesel richtete sich vor allem an die Taxichauffeure
und andere professionelle Nutzer, wurde aber schon beim Vorgänger, dem "Ponton", von Privatkunden entdeckt, denen das behäbige Leistungspotential reichte, die aber dafür sparsam fahren wollten.
Sparsam war er durchaus, man konnte gut mit 7,5 - 8 Litern auf 100 km auskommen, gerade auch im Stadtverkehr. Das war den Benzinern zu jener Zeit noch nicht annähernd möglich.
Der Siegeszug der Diesel-Mercedes in den 50er und 60er Jahren hat übrigens auch was mit der Subvention von Agrar-Diesel zu tun. Früher fuhren die Landwirte Opel oder Käfer, dann aber lieber Meredes D.
Die Karosserie war so verwindungssteif und solide, wie man es sich nur vorstellen kann, der Federungskomfort zu jener Zeit unerreicht.
Besser konnten es nur noch hydraulische oder hydro-pneumatische Systeme, die gab's zum Beispiel von Rolls-Royce oder Mercedes selbst (im 300er, dem Spitzenmodell der Baureihe, mit Luftfederung).
Auch das Thema Sicherheit war damals schon recht weit gediehen. Bei Mercedes machte man schon in den 50ern umfangreiche Crash-Tests. Allerdings ging die hohe passive Sicherheit des W 110 hauptsächlich zu Lasten anderer Verkehrsteilnehmer, da der Wagen einen extrem steifen und unnachgiebigen Vorderbau hatte. Das blieb so bis zum W 123. Erst danach wurden sie weicher.
Die angedeuteten kleinen Spitzen am Heck waren auch gar keine richtigen Flossen, jedoch mit zierlicher Chromaufleistung; eine schönes Zugeständnis an den Zeitgeist, denn es gab ja damals viele Autos, die ähnliche Designelemente aufwiesen.
Der Pflegeaufwand war relativ niedrig, die Wartung konnte problemlos selbst durchgeführt werden, ebenso Bremsen und andere Verschleißteile.
À propos Bremsen - die waren super, wie bei jedem Mercedes, den ich je gefahren habe. Einwandfrei zu dosieren.
Rost an der Karosserie bei älteren Exemplaren, vor allem im Bereich der hinteren Aufnahmen der Radaufhängung, war schon noch ein Thema zu jener Zeit, allerdings war die Korrosionsvorsorge bei Mercedes natürlich erheblich besser als bei den meisten Mitbewerbern.
Nur eins habe ich bei diesem schönen Auto stets vermißt - die Servolenkung, die es zwar als Zubehör gab, die meiner aber nicht hatte. Das Fahrverhalten war einwandfrei und sehr sicher, aber behäbig bei der Reaktion auf schnelle Lenkkorrekturen, und das Parken und Rangieren war recht mühsam.
Wenn man so ein Auto noch in gutem oder restauriertem Zustand finden kann, ist es ein sehr empfehlenswerter Oldtimer, da die Laufleistungen aller technischen Komponenenten wirklich ganz außerordentlich waren.
Motoren und Getriebe sind bei entsprechender Pflege praktisch unbegrenzt haltbar, sie müssen halt gelegentlich überholt werden.
Nur die Lenkgetriebe waren ein Schwachpunkt bei Mercedes, allerdings meiner Meinung nach bei den Nachfolgern W 114/115 und W 123 noch mehr als bei den 110ern. Auch die Versorgung mit technischen Teilen ist immer noch als sehr gut einzustufen.
Mir persönlich ist der Wagen jedenfalls von allen Mercedes-Modellen, die ich im Lauf der Jahre gefahren habe, immer der liebste gewesen.
Ich kann ihn nur weiter empfehlen.